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Die zwei Brüder

Das Märchen beginnt mit zwei Brüdern.

Enden wird es mit einem Stein und einem blühenden Strauch.

Zwei Brüder, sie hätten unterschiedlicher nicht sein können, ließen sich wohl am besten mit ihren Gedanken beim Spiel beschreiben: einer von ihnen musste immer und überall der Gewinner sein. Am schnellsten laufen, am höchsten springen, am härtesten schlagen… sonst war das Spiel für ihn umsonst gewesen. Der andere Bruder jedoch, viel ruhiger als der Erste, sah das Spiel viel eher als das, was es war: ein Spiel.

Auch er hatte, so kann man sagen, einen Ehrgeiz entwickelt. Doch war es sein Hauptanliegen, zu lernen. Es ging ihm nicht darum, einen Anderen zu besiegen, nicht darum, von allen für seine Leistungen gelobt zu werden. Er wollte lernen. Erfahrungen sammeln und an sich selbst wachsen.

Mit diesen Lebenseinstellungen aus Kindertagen gingen sie ihre Wege. Der Eine immer im Kampf, immer in Konkurrenz. Die Suche nach dem nächsten Geschäft, nach dem besten Profit, machte ihn blind und kalt für seine Mitmenschen. Der Andere ging mit offenen Augen durch die Welt, sah das Funkeln in den Augen der Kinder und behielt sein eigenes Funkeln in den Augen, während sein Bruder mit der Zeit grau zu werden schien…

Und so trafen sie sich eines Tages und gingen gemeinsam einen Fluss entlang. Da trafen sie auf einen wunderschönen, blühenden Strauch. Die Blüten waren so gelb, als schiene die Sonne selbst in ihnen. Der eine Bruder blieb stehen und betrachtete voller Freude den Strauch.

„Sag Bruder, sind dies nicht wunderschöne Blumen?“

Der andere Bruder, er hatte sie mit seinem hurtigen Blick gar nicht bemerkt, fing nun an, einen Strauß zu pflücken.

„Oh ja Bruder, ich werde sie mitnehmen, um mich lange an ihnen zu erfreuen. Wieso tust du es mir nicht gleich?“

Ruhig entgegnete der andere: „Du nimmst sie mit dir, um ihnen beim Sterben zuzusehen. So wie du ihnen das Leben nimmst, wird dir einmal das Leben genommen werden. Ich hingegen erfreue mich an ihrer Farbe, ihrem Duft, an ihrem Schaukeln im Wind. Ich besitze sie nicht und würde ich es tun, könnte ich mich nicht länger an ihrer Lebendigkeit erfreuen. Ich lasse sie gedeihen und wenn ihre Zeit der Blüte vorbei ist, werden sie von selbst weichen und Platz für neue Knospen machen. So, wie ich einmal weichen werde.“

Für einen Moment hielt der Bruder inne, schaute in die funkelnden Augen des anderen. Es war ihm, als schaue er in den Sternenhimmel selbst. Und als er abends daheim war, und sich selbst so grau und leblos im Spiegel betrachtete, da erinnerte es sich an den Glanz seines Bruders. Die Worte aber, die dieser zu ihm gesprochen hatte, waren längst wieder vergessen. Und sie zu erinnert, so dachte er bei sich, dafür habe ich keine Zeit.

Und die Zeit verging und die Brüder wurden alt. Ihr Ende rückte näher und sie wussten es. Der eine wurde unruhig. Es wuchs die Angst in ihm, er könnte sterben, bevor er alles erreicht hatte. Er schottete sich ab und jagte seinen Geschäften ehrgeiziger als je zuvor hinterher. Was wäre, fragte er sich täglich, wenn er sterben würde, ohne Geld zu hinterlassen? An was sollte man sich denn erinnern, wenn nicht an seine Geschäfte? Kaum sah man ihn noch. Und wenn, dann hetzte er vorbei ohne ein Wort, ohne einen Blick zu wechseln.

Der andere war ruhig. So ruhig, wie er immer gewesen war. Ja, vielleicht sogar noch etwas ruhiger. Er nahm sich Zeit für die Leute, die er liebte, die ihn liebten. Für die Dinge, die er gern tat. Er erfreute sich an dem Leben, ohne über seinen nahenden Tod zu trauern. Er genoss seine Zeit auf Erden und nutzte sie auch, um über sein Leben nachzudenken. Er schloss in Frieden ab mit sich.

Sein Bruder starb vor ihn. Eines Tages fand man ihn, den Kalender noch in der Hand. Vermutlich hatte er das Haus für seinen nächsten Termin verlassen wollen, als ihn der Tod aus dem Leben nahm. Genau wusste es keiner, denn niemand war da gewesen. Die Einsamkeit, in der er starb, hatte er selbst geschaffen.

Einige Wochen später starb auch der zweite Bruder. Im Sonnenuntergang schloss er die Augen und die Sonne nahm ihn mit sich. Man fand ihn bald und er schien zu schlafen. Ein letzter, glücklicher Schlag auf der Terrasse seiner kleinen Hütte am See.

Einige Zeit später ließ man ihn beerdigen. Ein Bruder bekam einen teuren Stein aus Marmor. Man schrieb seinen Namen auf den Stein, einen Todestag wusste man nicht genau. Doch der Stein war grau und kalt, so wie er selbst gewesen war. Die Rose, die man auf den Marmor gelegt hatte, war bald verwelkt.  Sein Vermögen war bald ausgegeben und mit der Zeit vergaß man ihn.

Auf dem Grab des anderen Bruders ließ man einen Strauch pflanzen. Und man goss den Strauch und wann immer ihn jemand sah, erfreute er sich an den prächtigen Blüten, die Jahr für Jahr erwachten. Und jeder, der ihn gekannt hatte, hielt ihn in Erinnerung und behielt seine warmen Worte, seine funkelnden Augen im Kopf. Die Erinnerungen erblühten, so wie er immer geblüht hatte. So wie ewig wiederkehrend der Strauch erblühte und wuchs und sich verbreitete.

von Svenja G., 10G2

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