Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Beitrag zum Schreibwettbewerb „Schule gestern – heute – morgen“.
Die Autorin Liliane J. aus Jahrgang 11 erreichte mit ihrem Text den ersten Platz. Herzlichen Glückwunsch!
„Irgendwie kann heutzutage alles fliegen.“ Eine fremde ältere Dame mit Brille und Kaffeebecher schaut nach oben. Sie verfolgt ganz fasziniert den schwebenden Bus, der jetzt mit einem leisen Summen an der Haltestelle sanft zum Stehen kommt. Der funkelnagelneue Bus, mit dem er heute das erste Mal zur Schule fährt, wirkt auf Aron gigantisch. Heute geht er zum aller ersten Mal in die neue Schule. Heute fliegt er auch das allererste Mal mit dem Schulbus. Heute und davon ist Aron felsenfest überzeugt, heute wird einfach phänomenal.
Die Busfahrt vergeht wie im Flug und Aron kann nicht aufhören daran zu denken, wie wohl der Unterricht ablaufen wird. Erst Deutsch, dann Sport und Geschichte. Ganz besonders freut er sich auf seinen Profilkurs in der letzten Stunde. Astronomie mit Herrn Hawking.
Schon als er aus dem Bus aussteigt hört er von Weitem Kinder und Jugendliche vor dem Schulhof, wie sie sich begrüßen und über die Ferien austauschen. Schon die 200 holprigen Meter über den Feldweg bis zum Eingang sind anstrengend für Aron und er fragt sich wie sein Vater das früher noch mit Schulranzen und Sportbeutel bewältigt hat. Zum Glück läuft heutzutage alles digital. Bücher, Arbeitshefte und Mappen sind schon seit 15 Jahren überfällig bis sogar die ehemals modernen digitalen Tafeln abgeschafft worden sind. Stattdessen erkennt Aron durch die Klassenzimmerfenster schon Hologrammprojektoren die in ihrem meerblauen Schimmer leuchten und je nach mündlicher Anweisung zeigen, was das Herz begehrt.
Nach dem ersten Klingeln in Deutsch zeigen sie zum Beispiel Zeitungsartikel, Geschichten, Gedichte und auf Wunsch können alle Reime, alle sprachlichen Mittel, alle Verben und simpler auch alle Worte, die mit dem Buchstaben A-Z anfangen markiert und beliebig verändert werden. Arons Mutter ist schon seit 2023 Deutschlehrerin und über die vielen Jahre Berufserfahrung bis heute 25 Jahre später hat sich nicht nur die Kontrolle der Klassenarbeiten durch die Technik deutlich vereinfacht, sondern auch das Fach Deutsch an sich. Generell würden jetzt alle Fächer die Kreativität der Schüler*innen fördern und es ginge weniger um das Analysieren vergangener Gedichte, sondern mehr um das Schreiben neuer Texte. Individualität und Kreativität. Das Motto der Eichendorffschule zu ihrem 100-jährigen Jubiläum.
So wird in den nächsten zwei Stunden Sport auch nicht mehr eine Sportart mit allen und von allen ausgeübt. Der hochentwickelte Simulator bietet eine Vielfalt an Sportarten. Vom Fußball bis hin zum Bogenschießen ist alles möglich und solange man fair spielt und Fortschritte macht sind wenig Grenzen gesetzt. Als Aron eine Partie Schach nach der anderen gewinnt, darf er sogar gegen seine Lehrerin antreten, gegen die er sich am Ende sogar nur knapp geschlagen geben muss. Die Spannung zieht sich bis in die Pause und seine Mitschüler*innen feuern ihn nach Unterrichtsschluss energisch an. In der Umkleidekabine muss Aron daran denken, wie sein Vater immer gerne davon erzählt, dass er mit seinen Freunden Körbe um die Wette geworfen hat und wie er mit leuchtenden Augen das erste Mal vor der großen Sporthalle und dem etwas kleinerem Materialraum stand. Am Elternsprechtag hat er sich lange, begeistert mit den Eltern von Arons bestem Freund unterhalten und beide Elternteile waren überrascht, wie sehr sich doch ihre alte Schule verändert habe. Sie würden sie kaum wiedererkennen.
In Geschichte widmen sie sich am Jubiläumstag der Schule dementsprechend auch diesem Thema und blicken zu diesem Zweck in die Archive der Eichendorffschule. Die Klasse ist in mehrere Gruppen eingeteilt, die zusammen recherchieren und kurze Vorträge erarbeiten. Arons Gruppe widmet sich den zwei Jahren von 2020-2022. Die vielseitigen digitalen Optimierungen die im Jahr 2048 für Schüler*innen und Lehrkräfte ganz normal erscheinen wurden erst in diesen Jahren mit dem Unterricht von zuhause richtig vorangebracht. Zahlreiche Textquellen, wie die Tagebucheinträge und Unterrichtsprotokolle, geben einen erstaunlich genauen Einblick in den turbulenten Alltag in der Schule. Oder vielmehr außerhalb, vor dem Rechner und mit Kontaktbeschränkung und Quarantäne.
Die Eindrücke der Vergangenheit faszinieren Aron, aber im Astronomie Unterricht, auf den er sich schon seit Stunden, Tagen und fast Wochen gefreut hat verschwindet nach einigen Minuten all seine Euphorie. Herr Hawking hat mit einer Einweisung zur Nutzung der Sternenkartenprojektoren begonnen. Die neusten digitalen, eishockeypuckgroßen Geräte, die auf Knopfdruck Sternenkarten in den verdunkelten Raum projizieren und so ganze Sonnensysteme zum Schweben bringen. Das Anschlussgerät welches für jeden Platz einzeln, ähnlich wie die Gasanschlüsse in den Chemieräumen, oben an der Decke angebracht ist kann Aron aber leider nicht erreichen. Normalerweise macht es ihm Nichts aus um Hilfe zu fragen. Seitdem er im Rollstuhl sitzt, muss er das leider öfter als ihm lieb ist. Aber jetzt? Wie soll er denn die Geheimnisse des Universums lösen und weit entfernte Galaxien erkunden, wenn es ihm noch nicht mal gelingt die Vorrichtung für die Sternenkarten zu bedienen? Wie soll er denn der erste Astronaut außerhalb der Milchstraße werden? Frustriert und enttäuscht guckt er jetzt Herrn Hawking an, der ihn freundlich anlächelt. Aron bemüht sich das Lächeln zu erwidern und will sich gerade eine Erklärung zurechtlegen als Herr Hawking auf einen am Tisch befestigten grauen Schalter zeigt. Ohne ein Wort zu sagen, nickt er aufmunternd. Als Aron den Schalter betätigt fährt das Anschlussgerät erstaunlich schnell nach unten und bleibt exakt auf Arons Augenhöhe stehen. Herr Hawking legt seine Hand auf Arons Schulter und zitiert stolz seine Lieblingsautorin: „Wenn die Sterne zu weit weg sind, mach dir nicht die Mühe sie zu erreichen, sondern hol sie zu dir.“
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